WAS DIE SPD VON LABOUR LERNEN KANN – UND WAS NICHT

Veröffentlicht am 21. November 2017

von Nicholas Williams

Unerwartet wurde in Großbritannien, turnusgemäß hingegen in Deutschland dieses Jahr gewählt. Die britische Schwesterpartei erzielte ein doppelt so hohes Ergebnis wie die SPD. Wie viel kann die SPD von Labour übernehmen?

 

Ein beachtliches Ergebnis für Corbyn

 

Auch wenn gesagt wird, das britische Wahlergebnis habe mehr mit Inhalten als mit Corbyn zu tun gehabt, um den Anführer der Labour-Party hat sich ein Kult entwickelt, der den „Schulz-Zug“ in den Schatten stellt. Zehntausende junge Menschen jubelten ihrem Idol beim legendären Glastonbury-Festival zu, die Welt stand Kopf: Die letzten Reste von Cool Britannia, traditionell wenig politisch, versammelten sich, um einen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen, politisch in den 70er Jahren sozialisierten und streng vegetarischen Kleingärtner zu feiern. Dieser Erfolg war nicht nur der Erfolg einer Partei, es war auch der Erfolg von Corbyn, und er erhielt ihn nicht trotz, sondern gerade wegen der Aura des Don Quijote.

Daher spielt es kaum eine Rolle, dass Corbyn die Wahl nicht gewann. Nach der arroganten Siegesgewissheit der Tories reichte es schon, dass May sie ebenfalls nicht gewann. Seitdem strauchelt May mehr, als dass sie regiert, und Corbyn ist inzwischen Jäger genug um zu wissen, dass angeschossene Beute, die nun die Brexit-Verhandlungen gründlich vermasselt, ihm nur weiter in die Hände spielen kann. Den Rest erledigt Boris Johnson für den Oppositionsführer.

Diese Faktoren sind spezifisch britisch. Einige von ihnen haben mit den vielen Fehlern von Theresa May zu tun, die sich in den knapp 1 ½ Jahren ihrer Amtsführung mehr Patzer geleistet hat als Angela Merkel in 12 Jahren.

 

Alter und Botschaft zählen mehr als Milieu

 

Auch Labour brachen die Stammwähler weg. Es sind weniger Arbeiter, die in Scharen zu der Partei zurückkehren, als vielmehr junge Menschen, die sich nicht länger sagen lassen möchten, dass eine bezahlbare Wohnung und ein Job, mit dem sie ihre Rechnungen bezahlen können, der Vergangenheit angehören. Entscheidend für Labours Ergebnis war eine einfache, klare Botschaft: Es gibt einen besseren Weg. Es war eine positive Botschaft, kein reines „anti“. Dies wurde besonders deutlich gemacht am Gesundheitssystem, und das hat funktioniert.

Das Thema Gesundheit ist nur bedingt übertragbar, denn trotz aller Kritik an der Zwei-Klassen-Medizin: Die GKV steht, anders als der Nationale Gesundheitsdienst auf der Insel, das NHS, nicht kurz vor dem Kollaps. Trotzdem ist das übertragbar: Es gibt einen besseren Weg, wir müssen uns die neoliberale Höllenmühle nicht antun. Diese simple Botschaft, glaubwürdig vermittelt, können und müssen Sozialdemokraten verkörpern, denn angesichts fortschreitender Präkarisierung im Arbeitsleben und kaum noch bezahlbarer Mieten ist das sozialdemokratisches Kerngeschäft.

 

Keine Ein-Mann-Show

 

Trotzdem ist Corbyn kein Ein-Mann-Betrieb. Hinter seinem Erfolg steckt Momentum (zu deutsch: Schwung), eine Bewegung sowohl erfahrener Politveteranen der Linken als auch junger Aktivisten, die on- und offline im Wahlkampf an ihre Grenzen gegangen sind. In ihren Methoden zur Unterstützung Corbyns zu seiner Wahl und Wiederwahl als Parteivorsitzender war Momentum nicht zimperlich, was allerdings auch für die Gegenseite galt. Im Wahlkampf 2017 zeigten sich die Aktivisten aber als Wahlkampfmaschine, die nicht dem traditionell linken Fehler aufsaßen, es bei der Macht in der Partei zu belassen. Sie waren bereit, Corbyn bis in die Downing Street zu bringen, dem Sitz des Premierministers, und sie haben die Konservativen das Fürchten gelehrt. Momentum besteht nicht aus traditionellen Gewerkschaftsfunktionären; viele sind akademisch gebildet und technisch affin, vor allem aber hochpolitisiert. Auch Gewerkschaften fangen aber an, sich für die Gruppe zu interessieren, ein früherer Berater Tony Blairs trat ihr inzwischen bei (wobei dies natürlich auch reiner Opportunismus sein kann).

Momentum entstand aus parteipolitisch lange Zeit Heimatlosen. Die Gruppe formierte sich, als Corbyn 2015 seinen Hut in den Ring warf, den Labour-Parteivorsitz anzustreben. Aufgrund des Mischwahlrechts in Deutschland haben aber von der SPD Enttäuschte bei den Grünen und der Linken längst parteipolitisch neue Wurzeln gefunden. Eine Bewegung wie Momentum – egal, wie man zu ihnen steht – hätte es in Deutschland also schwer, denn entsprechende parteipolitisch Bestrebungen links von Labour kamen nie über den Status von Sektierergruppen hinaus.

Trotzdem gibt es natürlich auch in Deutschland viele Menschen, die sich von der Parteipolitik abgewandt haben. Oft wird beschworen, dass diese sich lieber in themenbezogenen Gruppen organisieren, für Greenpeace, Campact, Geflüchtetenhilfe oder Attac begeistern. Linke Politik, die auf große Veränderungen setzt, ist auf dieses Potential angewiesen. Die Linkspartei hat die Möglichkeiten dazu nicht: Auch in den letzten zehn Jahren hat sie es nicht einmal geschafft, in alle deutschen Landtage einzuziehen, und sie bleibt intern zerstritten zwischen ostdeutschen Nostalgikern, versprengten Resten der radikalen Linken im Westen, einem sozialdemokratischen Flügel sowie einem verstörenden Rest, der in trüben Wassern fischt. Die Grünen sind eine durch und durch bürgerliche Partei geworden, die sich in einem Jamaika-Bündnis wohlfühlen würde und vermutlich auch wird. Die Strahlkraft eines linken Reformprojekts müsste schon groß sein, um diese Partei wieder in das progressive Lager zu ziehen.

Die Aufgabe, eine andere Politik zu machen, wird also der SPD zufallen. Es gibt durchaus gesellschaftliches Potential politisch interessierter und aktiver Menschen, das sie dafür braucht. Dafür müssen sich Botschaft und Methoden aber tiefgreifend verändern. Es muss nicht rein über Personen funktionieren, denn der Prozess, den es hierfür braucht, geht bedeutend tiefer als ein reiner Austausch von Gesichtern. Labour steckt inmitten dieses Prozesses, er ist auch dort längst nicht abgeschlossen.

 

Wege des direkten Kontaktes

 

Aufgrund der vielen Auslandsbriten gibt es Labour inzwischen auch in Deutschland. Diese sind, im Zuge des Brexit, im Begriff, sich als Gruppe innerhalb von Labour Gehör zu verschaffen. Wer mit ihnen über Labour, Corbyn und den Brexit ins Gespräch kommen möchte, kann sich gerne an das provisorische Komitee wenden, das derzeit eine Sektion von Labour für in Deutschland lebende Briten aufbaut, und das am Austausch mit der SPD interessiert ist. Der Vorsitzende heißt Steve Hudson und ist unter stevehudson@netcologne.de erreichbar.