Ahnungslos über Afghanistan?

Veröffentlicht am 19. August 2021

Ein Kommentar von Gero Neugebauer

 

„Wir haben die Lage falsch eingeschätzt“ urteilt Heiko Maas. Für Angela Merkel ist die Entwicklung in Afghanistan „bitter, dramatisch und furchtbar“. Für wen noch neben den dort lebenden davon Betroffenen? Die schwerwiegendste politische Fehlprognose der deutschen Regierung in Bezug auf die Entwicklung in Afghanistan kann nicht dadurch relativiert werden, dass Heiko Maas zu dem „wir“ sowohl die Bundesregierung als auch „die Geheimdienste“ sowie die „internationale Staatengemeinschaft“ zählt. „Ich bin’s nicht, Joe Biden ist es gewesen“ könnte in Anlehnung an den Titel eines Theaterstücks, das vom Abschieben von Verantwortung handelt, gesagt werden. Jedenfalls redet er die eigene Verantwortung, und damit die der gesamten Bundesregierung, klein. Und die ist der Adressat der Forderung von Rolf Mützenich, der am Montag erklärt hatte, „dass nun jede Stunde zähle. Wir müssen jetzt alles unternehmen, um weitaus mehr Menschen aus Afghanistan zu evakuieren als bislang geschehen.“ Bis Dienstagmorgen konnte aufgrund der Lage auf dem Flughafen in Kabul jedoch kaum etwas geschehen.

 

Politisches Handeln wird von Interessen geleitet und politische Entscheidungen  beruhen – theoretisch – auf klassifizierten Informationen aus vielfältigen überprüfbaren Quellen. Sie müssen geeignet sein, eine Lage, das Wort geht auf das althochdeutsche lāga = Hinterhalt zurück, erkennen und von den eigenen Interessen geleitete Entscheidungen treffen zu können. Doch bis vor Kurzem erklärte unser als entschlussfreudig bekannter Außenminister, dass er selbst aus den eigenen „Dienstwegen“ keine Signale gehört hätte. Will er uns glauben machen, dass er nicht zu den politischen Akteuren gehört, denen neben öffentlichen Medien mit Berichten von in der Regel gut informierten Journalist*innen weitere Informationsquellen bis hin zu Berichten aus Auslandsbüros der Stiftungen befreundeter Parteien zur Verfügung stehen? Oder wollte er seiner Landsfrau, der Verteidigungsministerin, zu Hilfe kommen, die ebenfalls nichts bemerkt werden haben will. Ist ihr Name Hase? Wurde sie nicht informiert? Haben beide als zuständige Administratoren in den Politikfeldern Außen- und Sicherheitspolitik offiziell weder etwas gehört noch etwas gesehen, weil das Bundeskanzleramt sie gebeten hatte abzuwarten? Dort laufen die für die Regierungspolitik relevanten Informationen zusammen und dort wird auch entschieden, nicht zu entscheiden, wenn beispielsweise noch Informationen fehlen, weil die eigenen Interessen noch nicht definiert sind oder erst Handlungen Dritter abgewartet werden müssen. Wer kann oder will sich vorstellen, dass die Bundeskanzlerin Afghanistan nicht „auf dem Schirm“ hatte?  Oder dass der für die Lage zuständige Kanzleramtsminister weder Informationen des BND, der auch solche von der CIA und von anderen Auslandsgeheimdiensten bekommt, noch aus anderen Quellen gehabt, aber nicht weiter gegeben hat? Für das Abwarten sprechen sowohl der Führungsstil der Kanzlerin wie die Tatsache, dass die Grundlinien der Außen- und Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt entschieden werden und beispielsweise Informationen aus dem Weißen Haus nicht direkt an Ministerien gehen. Selbst wenn Klagen von ehemaligen Regierungsmitgliedern über die Dominanz des Kanzleramts dazu beitragen zu verstehen, dass Minister gelegentlich  eher als Ministranten der Kanzlerin denn als Minister mit eigener politischer Verantwortung aufgetreten sind bzw. auftreten, befreit sie das nicht von ihrer eigenen Verantwortung. Dass die unterschiedlich definiert werden kann, hat der sich auch als „Heimat (Schutz)Minister“ verstehende Innenminister Seehofer gezeigt. Lange Zeit sah er seine Aufgabe darin, die „Heimat“ vor Menschen zu schützen, die ihre Heimat gerade verlieren, was ihnen auch deshalb passiert, weil sie dabei behilflich waren, „unsere Sicherheit, lies: Heimat, am Hindukusch zu verteidigen“ (Peter Struck, SPD). Nun dürfen von Abschiebung bedrohte Zufluchtsuchende aus Afghanistan – vorerst? – hier bleiben.

 

Prognosen sind, wie Mark Twain einst erklärte, riskant, weil sie für die Zukunft gelten. Sie können über den Verlauf von Epidemien, den Energieverbrauch, die Wahrscheinlichkeit einer Inflation oder die Politik der Taliban abgegeben werden und richtig oder falsch sein. Wer einen Plan macht, kann nach Bertolt Brecht ein großes Licht werden, einen zweiten machen und dann erleben, dass beide nicht gehen. Wer politisch handelt, kann der Maxime von Helmut Kohl folgen und bewerten, was am Ende herauskommt. Oder es wird bestimmt, was am Ende herauskommen soll und danach wird entschieden. Das Ziel, die von Al-Quaida ausgehende Terrorgefahr zu beseitigen, war erreicht worden. Danach fehlte eine eindeutige Legitimation für den weiteren Verbleib der Bundeswehr. Dass eine dem Muster einer westlichen Demokratie entsprechende politische Ordnung nicht in relativ kurzer Zeit einer durch die Existenz mehrerer ethnisch und kulturell differenzierter Stämme geprägte Gesellschaft oktroyiert werden kann, in der politische Prozesse durch Akteure bestimmt werden, die sich auf patriarchalisch geprägte und religiös legitimierte Traditionen, auf militärische Macht und auf materielle Reichtümer stützen, aber nicht auf demokratisch legitimierte Wahlen, war trotz mancher Fortschritte im Überbau Afghanistans offensichtlich.

Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Ein moralisches Schuldbekenntnis ist ebenso angesagt wie tätige Reue. Streit darüber, ob nun rund zweitausend Afghanen mit den Hundertausenden Zufluchtsuchenden aus dem Jahr 2015 gleichgesetzt werden können, wäre beschämend. Und eine der vielen Lehren sollte sein, dass eine SPD-Fraktion im Bundestag künftig nicht wie im Juni bei kritischen Entscheidungen auf Nachfragen und Einwände verzichtet und der Regierungslinie folgt, sondern in spezifischen Situationen zusätzlich zur eigenen noch externe Expertise zur Entscheidungsfindung heranzieht, um entscheiden zu können, ob die Stunde geschlagen hat und wem sie schlägt.